Gastbeitrag im Sozialismus: „Eine Linke, die die Machtfrage nicht stellt, macht sich überflüssig“

Die Wahlen vom 13. März waren eine sichtbare Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Seitdem wird allenthalben das Totenglöckchen für die Debatten über die Möglichkeit einer progressiven Regierung auf Bundesebene geläutet. Die einen konstatieren die Tatsache, dass eine entsprechende Mehrheit schon rechnerisch in weiter Ferne liegt, mit großer Erleichterung (bemerkenswert ist freilich, dass diese Erleichterung in der »jungen Welt« genauso verbreitet ist wie in der »WELT«). Andere reagieren mit Bedauern, wieder andere mit dem Versuch, den strategischen Kern einer progressiven Politik dennoch zu formulieren.1)  Ich denke, dass dieser letzte Weg nicht nur richtig, sondern in der konkreten historischen Situation das Gebot der Stunde ist, wenn wir einen strategischen Fehler vermeiden wollen, der die Linke und DIE LINKE am Ende sogar in die Bedeutungslosigkeit treiben kann.

Ich habe Ende 2015 mein Plädoyer für eine LINKE, die von der Zuschauertribüne herabsteigt und offensiv die Perspektiven einer rot-rot-grünen Bundesregierung diskutiert, mit dem Ausmaß und der Dynamik des Rechtsrucks in Politik und Gesellschaft begründet.2) Ich habe diese Dynamik sträflich unterschätzt. Sie hat die strategische Debatte, die in der LINKEN seitdem geführt wird, überholt, aber nicht überflüssig gemacht. Wir sind heute dem von mir vor drei Monaten beschriebenen »polnischen« Szenario, in dem die politische Linke atomisiert und die politische Auseinandersetzung auf eine Scheinalternative zwischen Neoliberalismus und Nationalkonservatismus reduziert ist, ein ganzes Stück näher gekommen. Im Bundestagswahlkampf 2017 wird es nach Lage der Dinge kaum noch ernsthaft um soziale und verteilungspolitische Fragen gehen, die 2013 wenigstens noch teilweise den Wahlkampf prägten. Stattdessen ist der Boden dafür bereitet, dass die rechtsradikale AfD den Wahlkampf mit nationalistischen, fremdenfeindlichen und antiislamischen Provokationen vergiftet und prägt. Auch die Frage nach möglichen Koalitionen wird sich auf die Alternative zwischen der Neuauflage einer Großen Koalition oder einer schwarz-grünen Koalition reduzieren.

Die eigentliche Gefahr droht der LINKEN in diesem Szenario nicht durch die Konkurrenz zur AfD, sondern durch die zum Teil selbst verschuldete strategische Bedeutungslosigkeit. Wie will die politische Linke dieser in vollem Gang befindlichen Rechtsentwicklung nicht nur trotzen, sondern eigene Vorstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur als Forderungen, sondern mit der Chance der Realisierung entgegensetzen? Kann man es den Wählerinnen und Wählern verübeln, wenn sie sich angesichts einer öffentlich zur Schau gestellten und schon wie ein religiöses Dogma anmutenden Ablehnung einer Zusammenarbeit der politischen Linken von uns abwenden? Wenn wir diese Zusammenarbeit nicht einmal versuchen? Und mit wir meine ich auch DIE LINKE! Eine Linke, die in der gegebenen Situation nicht einmal die Chancen zur Zusammenarbeit auslotet, gibt zu erkennen, dass sie die Macht nicht will. Das macht sie für Wähler überflüssig. Die Gefahr, die von dieser Unfähigkeit, auf der Höhe der Zeit zu agieren, ausgeht, bedroht die Legitimität des gesamten Parteiensystems. Die zig Millionen zählenden Wählerinnen und Wähler, die eine progressive Reformpolitik wollen, verschwinden ja nicht allein deshalb, weil sie von »ihren« Parteien zur Machtlosigkeit verurteilt werden. Ich wage die These, dass die wirkliche politische Repräsentationslücke mittlerweile im Mitte-Links-Spektrum klafft.

Ist das alles ein Grund, resigniert die Hände in den Schoß zu legen? Nein, ganz und gar nicht. Es ist nicht zu spät, die Machtfrage zu stellen. Es ist sogar eine Chance für DIE LINKE, wenn sie tut, wozu die SPD ganz offenkundig nicht in der Lage ist: Mobilisierungskern und intellektueller Kristallisationspunkt für einen progressiven Machtwechsel zu werden. Dieser Machtwechsel wird 2017 nicht stattfinden, so viel kann man heute schon voraussagen. Aber es ist mit Blick auf die Entwicklung in anderen europäischen Ländern geradezu eine Existenzfrage für die politische Linke, dass sie ungeachtet dieser kurzfristigen Perspektiven ihren Gestaltungsanspruch revitalisiert und dazu ihre Kräfte bündelt, zunächst im Dialog, vielleicht auch in dem einen oder anderen Bundesland in einer gemeinsamen Regierung und hoffentlich recht schnell in vielen anstehenden sozialen und politischen Kämpfen, für die die Anhängerschaft von LINKEN, SPD und Grünen gleichermaßen mobilisierbar ist (wie wir es ja bei der Auseinandersetzung um TTIP und CETA auch schon erleben). Dieser Prozess wird der LINKEN auch programmatisch einiges abverlangen, nicht zuletzt die Fortsetzung des bereits begonnenen Prozesses einer konsequenten Erweiterung des Horizonts auf die Gesamtheit der für eine progressivlinke Politik offenen Milieus.

Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess kommt nach meiner Auffassung den Gewerkschaften zu. Die Unfähigkeit der drei Parteien im Mitte-Links-Spektrum, ihre Differenzen zugunsten eines gemeinsam formulierten Machtanspruchs zu überwinden, ruft geradezu nach einer politischen Autorität, die diese Verständigung auf den Kern eines demokratischen, sozialen und ökologischen Reformkurses laut genug einfordert, und nach Orten, an denen so eine Verständigung organisiert wird und politische Schnittmengen sachorientiert ausgelotet werden. Da gibt es bereits Hoffnung machende Ansätze. Dass das im Kern inhaltlich gar nicht so schwer ist, haben Benjamin Hoff und Alexander Fischer vor kurzem schlaglichtartig aufgezeigt.3) Ich plädiere aber für eine etwas offensivere Herangehensweise.

Werfen wir deshalb einen Blick auf die Frage, wo die inhaltlichen Schnittmengen eines progressiven Reformprojekts zu suchen wären. Ich schließe dabei an das an, was DIE LINKE auf einem Konvent unmittelbar vor der Bundestagswahl 2013 als Eckpunkte eines mit ihr machbaren Politikwechsels definiert hat.4)

Arbeit und Löhne: Der gesetzliche Mindestlohn braucht eine Dynamisierungsperspektive, die sich an objektiven Kriterien wie der Preisentwicklung orientiert. Im Übrigen muss der Mindestlohn schrittweise auf eine Höhe geführt werden, die nach 45 Jahren beitragspflichtiger Vollzeitarbeit eine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus garantiert, was ein Niveau von deutlich über zehn Euro erfordert. Ein Verbot sachgrundloser Befristungen, die ausnahmslose Geltung des Equal-Pay Grundsatzes in der Leiharbeit sowie eine Verbesserung des Kündigungsschutzes gehören zu den wahrscheinlich konsensfähigen Vorhaben.

Steuern: Eine steuerpolitische Gerechtigkeitswende müsste der Kernpunkt eines progressiven Politikwechsels sein, ohne den es schlicht nicht geht. Zentrale Elemente wären erstens eine im Kern wohl aufkommensneutrale Reform der Einkommenssteuer (höherer Grundfreibetrag, höheres Kindergeld, linearer Tarif, höherer Spitzensteuersatz), die mittlere und untere Einkommen entlastet, zweitens eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und drittens eine mutige Reform der Erbschaftssteuer.

Rente: Eine soziale Rentenreform, die für alle drei Parteien akzeptabel ist, könnte zum einen Abschied vom Dogma der Beitragssatzstabilität nehmen, zum zweiten ein tatsächlich lebensstandardsicherndes Ziel für das gesetzliche Rentenniveau definieren, drittens endlich einen Schlussstrich unter den Angleichungsprozess der Ostrenten ziehen, viertens eine Mindestrente oberhalb des Sozialhilfeniveaus für langjährige Beitragszahler enthalten, fünftens einen Weiterentwicklungspfad hin zu einer Erwerbstätigenversicherung definieren und sechstens endlich eine Rückabwicklung der gescheiterten Modelle der privaten Altersvorsorge (Riester) ins Auge fassen. Was vor wenigen Jahren noch ziemlich fantastisch geklungen hätte, ist heute angesichts eines sich unübersehbar ändernden rentenpolitischen Zeitgeists absolut machbar und müsste für DIE LINKE zum identitätsbildenden. Kern des Eintritts in ein progressives Reformbündnis gehören.

Direkte Demokratie: Die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden wird von SPD, LINKEN und Grünen grundsätzlich befürwortet. Die Umsetzung einer solchen verfassungs- ändernden Reform wird nicht ganz einfach, dürfte aber in keinem anderen Bündnis als diesem realisierbar sein.

Gesundheit und Pflege: Hier sollten die drei Parteien keine Probleme damit haben, einen Reformpfad zu vereinbaren, der hin zu einer solidarischen Bürgerversicherung führt, die nach dem Motto »Alle zahlen ein, alle sind versichert« funktioniert. Die Abschaffung der Zuzahlungen und Zusatzbelastungen für Versicherte dürfte dann ebenso wie die Wiedereinführung der Parität ein konsensfähiges Reformprojekt für die ersten vier Jahre sein.

Außenpolitik: Die Behauptung, dass ein progressives Bündnis an der Außenpolitik scheitern würde, gehört in »WELT« und »junge Welt« zu den Allgemeinplätzen. Ich halte sie für eine Chimäre, die dann verschwindet, wenn man programmatische Grundsätze weniger als Kopierfolien denn als Kompass begreift und zugleich der Allmacht außenpolitischer Sachzwänge einen politischen Gestaltungsanspruch entgegensetzt. DIE LINKE würde in einem Reformbündnis selbstverständlich einen Gewaltverzicht in der Außenpolitik als Conditio sine qua non einfordern. Dazu zählen eine Rückführung der deutschen Waffenexporte und eine Abschaffung aller indirekten Förderungen solcher Geschäfte (z.B. Hermes-Bürgschaften). Was die knifflige Frage der Haltung zu Auslandseinsätzen angeht, wird DIE LINKE zwar anerkennen müssen, dass völkerrechtliche Verträge auch nach einem Regierungswechsel gelten, aber eben auch nicht unveränderbar sind. Eine am Vermächtnis Willy Brandts orientierte Außenpolitik wird die Einbindung Deutschlands in transnationale Sicherheitsnetzwerke natürlich nicht negieren, aber erstens auf deren Reform pochen und zweitens darauf hinwirken, dass das globale Gewaltmonopol künftig bei der UNO liegt. Es ist kein Widerspruch zu einer gewaltfreien Außenpolitik, wenn man anerkennt, dass die Vereinten Nationen als multilaterale Autorität der letzten Instanz eine quasi weltpolizeiliche Rolle einnehmen. Will irgendwer bestreiten, dass mit einem solchen Reformansatz bereits viel gewonnen wäre?

Europa: Das Ende von Schäuble als Finanzminister sollte auch das Ende des Berliner Albdrucks der Austeritätspolitik in Europas einläuten. Die Regierungschefs von Griechenland und Portugal haben kürzlich eine gemeinsame Position veröffentlicht, die Abschied von der Austerität nehmen und in Europa eine Renaissance des ökonomischen und sozialen Fortschritts einläuten will. Damit ist der Orientierungspunkt für eine progressive Europapolitik gesetzt. In Deutschland konkret müsste eine progressive Regierung ihre Fantasie darauf verwenden, unterhalb einer für die Abschaffung der Schuldenbremse nötigen Verfassungsänderung Modelle für eine Umgehung derselben zu entwickeln. Die Ideen dafür liegen längst vor und werden quer über die Parteigrenzen diesseits der Union diskutiert.

Diese Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, noch weniger darauf, alle Essentials progressiver Reformpolitik abschließend zu benennen. Sie will nur die inhaltliche Richtung der Revitalisierung eines progressiven Gestaltungsanspruchs anzeigen. Wenn wir darauf verzichten, diesen Gestaltungsanspruch zu formulieren, legen wir nach meiner Überzeugung bereits jetzt die Grundlagen für kommende und unausweichliche Niederlagen. Eine Linke, die die Macht will, um den Fortschritt zu gestalten, kann scheitern. Eine LINKE, die sich dem verweigert, ist bereits gescheitert, bevor sie begonnen hat. Niemand weiß besser als Gewerkschafter, dass erlittene Niederlagen nicht rückgängig gemacht werden können, sondern der Boden sind, auf dem die Kämpfe der Zukunft geführt werden. Wir sollten aufhören, der LINKEN von gestern hinterherzutrauern und damit beginnen, die Linke von morgen zu erfinden.

 

Quellenverweise:

  1. Siehe zu letzterem Ansatz: Horst Kahrs/ Thomas Falkner, Der Gegenentwurf zur Kaltherzigkeit, in: Frankfurter Rundschau vom 1.4.2016; fr-online.de/gastbeitraege/afd-der-gegenentwurf-zur-kaltherzigkeit,29976308,34033388.html.
  2. Klaus Ernst, Runter von der Zuschauertribüne! in: Frankfurter Rundschau vom 27.11.2015; www.fr-online.de/gastbeitraege/ gastbeitrag-runter-von-der-zuschauertribuene- ,29976308,32653602.html
  3. Benjamin Hoff/Alexander Fischer, Progressive Politik statt Ausschließeritis; www.freitag. de/autoren/benjamin-immanuel-hoff/progressive-politik-statt-ausschliesseritis.
  4. Politikwechsel: Sozial. gerecht. machbar. Mit der LINKEN, 9.9.2013, online: http://www. die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/ artikel/politikwechsel-sozial-gerecht-machbarmit-der-linken/

 

Der Gastbeitrag ist im Sozialismus 5-2016 erschienen.