Rede: Versprechen gegeben – Versprechen gebrochen
Rede: Versprechen gegeben – Versprechen gebrochen

Rede: Versprechen gegeben – Versprechen gebrochen

Klaus Ernst (DIE LINKE): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn ohne Ausnahmen ist dringend notwendig.

(Beifall bei der LINKEN)

Durch die sogenannten Reformen auf dem Arbeitsmarkt sind die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland auf eine Rutschbahn nach unten geraten. Wir können jetzt nur fragen, wer für die Reformen auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich ist, die die Löhne zum Sinken gebracht haben. Fast 25 Prozent aller Beschäftigten arbeiten bei uns inzwischen zu Niedriglöhnen. Zur Erinnerung ‑ weil der ein oder andere von Ihnen das offensichtlich nicht mehr weiß ‑: Vor fast genau zwölf Jahren, am 2. Juli 2002, hat der Bundestag auf Antrag einer unserer Vorgängerparteien, der PDS, zum ersten Mal über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns abgestimmt. Selbstverständlich waren alle anderen dagegen. (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald

(DIE LINKE): So ist das! Wir waren das!)

Gefühlte zehn Mal haben Sie seit 2005 hier im Deutschen Bundestag vernünftige Löhne für Millionen von Menschen verhindert. Ja, es ist ein Erfolg, dass Sie endlich zur Vernunft gekommen sind.

(Beifall bei der LINKEN – Dietmar Nietan (SPD): Dann stimmen Sie mit!)

Der ehemalige Herausgeber der FAZ Müller-Vogg schreibt dazu im Cicero am 1. Juli dieses Jahres: Dieser „Meilenstein in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der Bundesrepublik“ … ist in erster Linie das Verdienst der Linkspartei. Die SPD hatte nämlich jahrelang diese „Begrenzung der Tarifautonomie im unteren Bereich“ … abgelehnt.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)

Nehmen Sie doch wenigstens die Realität zur Kenntnis, meine Damen und Herren! Dass Sie heute in der Koalition einen gesetzlichen Mindestlohn vorlegen, hat im Wesentlichen drei Gründe: Es waren der Kampf und die Kampagne der Gewerkschaften, es war der unermüdliche Kampf der Linkspartei und es war der Zeitgeist, gegen den Sie sich nicht länger stellen konnten. Deshalb haben wir jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der SPD)

Ja, es ist auch ein Erfolg der Linken. Warum machen Sie einen richtigen Punkt wie den gesetzlichen Mindestlohn so grottenschlecht wie in diesem Gesetz? In Ihrem Koalitionsvertrag versprechen Sie zum 1. Januar 2015 einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Ich zitiere: Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG. Sie sehen im Koalitionsvertrag Ausnahmen vor, die allerdings nur tariflich möglich sein sollen. Und heute, kein Jahr später?

(Zuruf von der SPD: Na? – Abg. Dietmar Nietan (SPD) meldet sich zu einer Zwischenfrage) ‑ Da will einer eine Frage stellen.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich dachte, Sie wollen den Satz noch zu Ende führen, bevor Sie ‑ ‑ Also nicht.

Klaus Ernst (DIE LINKE): Ich greife den Satz noch einmal auf.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie greifen den Satz noch einmal auf. Das heißt, Sie erlauben eine Zwischenfrage.

Klaus Ernst (DIE LINKE): Ja freilich, selbstverständlich.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Er wusste eh nicht, was er als Nächstes sagen soll! – Heiterkeit bei der CDU/CSU) ‑ Sie brauche ich dazu nicht.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Gut. ‑ Bitte schön.

Dietmar Nietan (SPD): Herzlichen Dank, Herr Kollege Ernst. ‑ Ich habe Ihren Äußerungen entnommen, dass Sie für die heutige Entscheidung zur Einführung des Mindestlohns wirklich brennen. Sie sehen sich bestätigt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich frage Sie: Rührt Ihr Enthusiasmus daher, dass Sie uns jetzt sagen können, dass Ihre Fraktion geschlossen zustimmen und Teil dieses historischen Ereignisses sein wird?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Gute Frage! – Thomas Oppermann (SPD): Bitte keine Enthaltung! Ja oder Nein?)

Klaus Ernst (DIE LINKE): Ich danke Ihnen für diese Frage, Herr Kollege. Sie gibt mir Gelegenheit, ganz ausführlich zu begründen, warum wir uns enthalten werden.

(Zurufe von der SPD: Oh! – Christine Lambrecht (SPD): So eine Enthaltung spürt man richtig im Geldbeutel! – Weitere Zurufe von der SPD und der CDU/CSU)

Wir werden uns enthalten, weil Sie eben nicht das machen, was Sie versprochen haben, weil der Mindestlohn zum Beispiel für unter 18-Jährige überhaupt nicht gelten soll. Sie schließen sämtliche Menschen unter 18 von der Regelung aus. Jetzt frage ich Sie: Warum soll die Schülerin Johanna, die am Supermarkt an der Kasse sitzt, 17 Jahre alt ist und dort ihre Tätigkeit verrichtet, mit 5 oder 6 Euro abgespeist werden, während ihr Kollege, der vielleicht Student und 18 Jahre alt ist, 8,50 Euro kriegen soll? Wo ist da bei Ihnen eigentlich die Logik? Wo ist die Gerechtigkeit? (Beifall bei der LINKEN – Christine Lambrecht (SPD): Sie soll erst einmal eine Ausbildung machen und nicht an der Kasse sitzen!) Es gibt überhaupt keinen Grund für Ihre Ausnahmeregelungen.

(Katja Mast (SPD): Sie sollen mit Ja oder Nein antworten! – Abg. Dietmar Nietan (SPD) nimmt wieder Platz)

‑ Ich bin noch nicht fertig. Ich beantworte noch Ihre Frage. Sie haben gefragt, wie wir uns dazu verhalten. Ich habe gesagt: Wir werden uns enthalten. Ein Grund, warum wir uns enthalten, ist: Sie führen keinen gesetzlichen Mindestlohn für alle ein, sondern nur für einen Teil der Beschäftigten. Frank Bsirske, der Vorsitzende des DGB, sagt, dass bis zu 3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von der Mindestlohnregelung eigentlich betroffen sein sollten, nicht betroffen sein werden. Deshalb werden wir uns enthalten. Deshalb können wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Da wir gerade bei den unter 18-Jährigen sind, sage ich auch Folgendes: Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie viele unter 18-Jährige davon betroffen sein werden. Knapp 30 Prozent der 450 000 Beschäftigten unter 18 Jahren sind Auszubildende. Es geht nur um 9 200 der unter 18-Jährigen, die zurzeit einer normalen, einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Der größte Teil, mehrere Hunderttausend junge Menschen, sind ganz normale Jobber. Sie verrichten im Supermarkt oder sonst wo ihre Tätigkeit, weil sie sich etwas dazuverdienen wollen. Warum wollen Sie denen den Mindestlohn nicht zugestehen? Sie brechen damit in eklatanter Weise Ihr Versprechen, das auch in Ihrem Wahlprogramm steht, Herr Kollege.

(Beifall bei der LINKEN)

Ferner enthalten Sie über 1 Million Langzeitarbeitslosen den Mindestlohn vor ‑ darauf wird meine Kollegin Sabine Zimmermann eingehen ‑, und Sie erhöhen die versicherungsfreie Zeit für Saisonarbeiter von 50 auf 70 Tage. Jetzt sagen Sie: Na ja, bei den Saisonarbeitern gab es schon immer die Möglichkeit, Kosten für Unterkunft und Verpflegung anzurechnen. Ich sage Ihnen: Wenn man einen Mindestlohn einführt, darf man nicht an einer vorkapitalistischen Regelung wie der Verrechnung der Kosten für Kost und Logis mit dem Lohn festhalten. Wir wollen, dass die Menschen ihren Lohn voll ausgezahlt bekommen und der mächtige Arbeitgeber die Kosten für Kost und Logis nicht abziehen kann. Auch diese Regelung, die Sie vorschlagen, ist unmöglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben von Kontrolle gesprochen: Wie wollen Sie denn das kontrollieren? Was ist das für eine Regelung? Wie wollen Sie kontrollieren, wie viel abgezogen wird? Es ist unmöglich, das zu kontrollieren. Deshalb ist diese Regelung unmöglich. Jetzt kommen wir zu den Zeitungsausträgern. Auch sie erhalten ab 2015 nicht einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Ihr Lohn ist weit davon entfernt. Ich nehme als Beispiel den Zeitungsausträger Helmut: Er ist erwerbsgemindert und will sich etwas dazuverdienen. Er steht um 4 Uhr morgens auf, um Zeitungen auszutragen. Sie haben ihm einen Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015 versprochen ‑ deshalb hat er Sie vielleicht auch gewählt; das würde er heute wahrscheinlich nicht mehr machen. Heute bekommt er gerade einmal 6,38 Euro in der Stunde, 2015 bekommt er 6,38 Euro in der Stunde, 2016  7,23 Euro und ab 2017, wo der allgemeine flächendeckende Mindestlohn nach Ihrer Regelung das erste Mal angehoben werden soll, erhält er 8,50 Euro, und bei 8,50 Euro bleibt sein Lohn dann erstmal stehen. Er erhält die Anhebung der 8,50 Euro, die Sie ihm versprochen haben, frühestens in vier Jahren, also 2018. Das ist Ihr Mindestlohn! „Mein Gott!“, kann ich dazu nur sagen.

(Beifall bei der LINKEN – Katja Mast (SPD): So wie es im Koalitionsvertrag steht! – Christine Lambrecht (SPD): Von Ihnen bekommt er nur harte Worte!)

Der entscheidende Punkt bei dieser Regelung ist folgender: Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, dass Abweichungen nur auf der Grundlage von Tarifverträgen möglich sind. Bei den Zeitungsverlegern, einer Branche ohne Tarifvertrag, machen Sie jetzt eine Ausnahme. Warum haben die anderen eigentlich Tarifverträge abgeschlossen? Die müssen sich ja jetzt an den Kopf fassen. Da Sie dieses Gesetz jetzt auch noch als Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie bezeichnen, ist die Kritik der Gewerkschaften vollkommen berechtigt. Ursula Engelen-Kefer, die ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB, Kollegin des Kollegen Sommer, der auf der Tribüne sitzt, hat das im Handelsblatt als ‑ Zitat ‑ „Täuschungsmanöver“ bezeichnet. Sie schreibt: Durch die Ausnahmeregelungen werden „etwa drei Millionen Arbeitnehmer vom Mindestlohn ausgeschlossen, vor allem diejenigen, die ihn dringend brauchen. Am meisten betroffen sind wieder einmal die Frauen, die mit 67 Prozent etwa doppelt so viele Dumping-Löhner stellen wie die Männer.“ Zitat Ende. Das ist der Grund. Mit diesem Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, sind wir von einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn meilenweit entfernt. Herr Bsirske, der Vorsitzende von Verdi, sagt ‑ ich zitiere ‑: Das hat mit dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, den die SPD in ihrer Mitgliederbefragung vor der Regierungsbildung zur Abstimmung gestellt hat, nichts mehr zu tun. Zitat Ende. Das ist nicht in Ordnung.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will auf ein Argument eingehen, das im Zusammenhang mit den Zeitungsausträgern formuliert wurde. Es wurde gesagt, die Pressefreiheit wäre in Gefahr, wenn der Lohn der Zeitungsausträger 8,50 Euro betragen würde. Für wie dumm halten Sie eigentlich die Bevölkerung? Jeder weiß, dass bei den Tageszeitungen ein Riesenkonzentrationsprozess vor sich geht. Bei den Tageszeitungen haben die zehn größten Verlagsgruppen inzwischen 60 Prozent Marktanteil; der Anteil stieg von 2006 bis 2014 um 6 Prozentpunkte. Bei den Kaufzeitungen haben die fünf größten 97 Prozent Marktmacht. Wenn Sie etwas für die Pressefreiheit tun möchten, dann versuchen Sie, das Problem der Konzentration im Pressebereich zu lösen. Sie dürfen aber nicht den Zeitungsausträgern ihren Lohn vorenthalten, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der LINKEN)

Weil meine Redezeit gleich vorbei ist, nur noch eine kurze Bemerkung. Ich habe den Eindruck, wir müssen uns einmal die Frage stellen: Wer regiert eigentlich wirklich? Zwar hat der Zeitungsausträger Helmut bei Wahlen genauso viel Stimmrecht wie Friede Springer; das ist richtig. Aber hat er auch genauso viel Einfluss? Wer sagt der Regierung eigentlich, wie diese Regelungen auszugestalten sind? In der Anhörung hat Herr Professor Dr. Dr. h. c. Preis zur Regelung für Zeitungsausträger Folgendes gesagt: Ich möchte – Zitat – nicht ausschließen, dass diese Regelung ein Produkt eines außerordentlich intensiven Lobbyismus ist. So machen Sie inzwischen die Gesetze, und sie sind meilenweit von dem entfernt, was Sie versprochen haben.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege.

Klaus Ernst (DIE LINKE): Was Sie hier vorlegen, ist kein flächendeckender Mindestlohn, sondern ein Flickenteppich. Da kann ich nur sagen: Versprechen gegeben, Versprechen gebrochen. (Beifall bei der LINKEN – Bernd Rützel (SPD): Oh!)

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